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Der Spaziergang

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Der Pate des kleinen Peter wollte den Türmer von Breiningen besuchen, und Peter durfte ihn begleiten. 
Nicht eine einzige Wolke war am Himmel. Ein Raubvogel flog schwer und mit trägem Flügelschlage über den Wald hin. Es war als ruhte alle Hitze des Tages auf des Vogels Rücken. Der Pate war ungewöhnlich aufgeräumt; er schnitt aus dem Stängel des Schierlings für den Jungen klangvolle Trompeten, stieß das Mark aus dem Holunderzweig und machte eine schöne Flöte. Alles das geschah, während sie vorwärts wanderten und über das, was sie sahen, in den Tag hinein plauderten.

Dicht vor Thurö, einer Insel, lag ein kleines Schiff; der Pate ruderte zu ihm hinaus. Er hatte viel mit den Leuten an Bord zu sprechen; Peter hatte ihn dorthin begleitet. 

Die See war ruhig, die Sonne brannte.
„Nun sollst di doch einmal in das Wasser kommen!“ sagte der Pater. „Heute vergaßen sie, es uns zu verbieten.“
Peter lächelte; er wollte gern in dem frischen, klaren Wasser umher schwimmen, zu Hause erhielt er nur die Erlaubnis die Strümpfe auszuziehen und bis an die Knie hinein zuwarten.
„Das ist ein anderes Bad, als daheim in Mutters Badewanne zu stehen und eine Kanne Brunnenwasser über den Kopf zu bekommen! Die Kleider ausgezogen, mein Junge!“
Das geschah. Selbst stand der Pate da, eine athletische Gestalt;
Er hob den kleinen hoch auf seine Schultern und ließ ihn die Beine unter die Arme zurück legen. Ein gewaltiges Plätschern erscholl aus dem Wasser, und es schloss sich über ihnen, in großen Ringen spielend und hoch aufschäumend, da wo sie verschwanden.
Einen Augenblick darauf zeigte sich das finstere Gesicht des Paten wieder, aber Peter war nicht zu erblicken, er war im Sprunge abgeglitten. Der Pater vermisste ihn sogleich und tauchte im Nu unter, ergriff den Knaben und hob ihn wieder über den Wasserspiegel empor. Das salzige Wasser lief dem Kleinen aus dem Munde, und er fing an zu weinen. 

„Schäm dich!“ sagte der Pate und gab sich die Miene, als ob alles sei, wie es sein sollte, aber sein Puls schlug heftiger als gewöhnlich. Gut war es, dass das Abenteuer so endete; Peters Begleiter aber war für den Rest des Spaziergangs etwas ruhiger geworden.
Eine der weitesten Aussichten im Lande hat man vom Breininger Kirchturme; man findet auch hier, wie im Wirtshause auf dem Brocken und an anderen besuchten Orten ein Buch, in das der Fremde seinen Namen, mitunter auch seine gewöhnliche Herzensergießung in schlechten Versen oder einen Witz, der nur den Verfasser selbst belustigt, schreibt. Oben war ein Signal angebracht, man nannte es den optischen Telegrafen, an dem lange dunkle Arme magisch ihre tote, aber bedeutungsvolle Sprache durch die Luft sandten. 
Was die Menschen mit Winterflaggen von Ort zu Ort weiter gaben, das besorgte hier ein beweglicher Hebel, und der Türmer war’s, der das Ganze bediente. 

Die Sonne war noch nicht unter gegangen, als zwei sehr ungleiche Personen zum Turme hinaufstiegen: Ein kräftiger Mann mit einem zarten Jungen an der Hand. Es waren der kleine Peter und sein Pate die noch am Abend den Türmer besuchen wollten. 


Der Meerbusen, die Inseln und das Meer lagen, gleich einer Landkarte, unten ausgebreitet. Über Thüro und Langeland, die wie Blumenbeete auf dem Wasser ruhten, erblickte man Seeland. Eine Anzahl Segel glitten vorbei, Schiffe lagen vor Anker, und Fischerboote bewegten sich ringsherum in dem geschlängelten Meerbusen.
Doch weit mehr als dieser ganze Anblick zogen die schwarzen Signalarme Peters Aufmerksamkeit an. Er wusste ja, dass sie sprechen konnten wie die Taubstummen; wie oft hatte er sie nicht sinken, steigen und die verschiedensten Stellungen einnehmen sehen!

Bald saß der Pate am gedeckten Tische; Peter hingegen war mitten im Spiel mit den beiden munteren Söhnen des Türmers begriffen. Sie verließen das Zimmer und es wurde verstecken gespielt.
Peter kroch in eine Öffnung der Mauer hinauf, durch die man zu den großen Glocken gelangte; zwischen ihnen lag ein großer fester Querbalken über dem Fußboden, auf dem man zum Schallloche hineingelangen konnte; die Sonne warf ihre langen Strahlen dort hinein. Durch das Schallloch musste man hinunter blicken können; das war eine Freunde mehr, während sie nach ihm suchten, und deshalb schlüpfte Peter den Balken entlang zwischen den Glocken hindurch und konnten nun über die ganze Insel und das Meer, wo die Schiffe lagen, hinausschauen. Er hörte schon den einen Knaben, welcher suchte, die Treppe heraufkommen, und er sah dessen Kopf durch die Öffnung hervorgucken, durch die er selbst gekrochen war.

 



„Bist du hier?“ fragte der Knabe. „Hier dürfen wir nicht rein, die Glocken könnten uns totschlagen!“
Peter antwortete nicht; sollte er sich bange machen lassen? Die Glocken hingen ja still, als wäre sie festgemauert. Auch konnten sie nicht dahin reichen, wo er stand. Der suchende Knabe ging wieder fort, er dachte, sein neuer Kamerad würde ihm nachkommen.
Die Sonne stand dich am Horizont und schien sich jetzt mit dem verschwinden zu beeilen. Peter konnte deutlich sehen, wie sie hinabglitt und verschwand, die Abenddämmerung breitete sich aus; er sah nach der Glocke, die vor der Nische beim Schallloch hing, wo er stand; plötzlich erbebte sie und machte eine ganz leise Bewegung; er wollte fort, aber im Nu erhob sich die Glocke mehr, ihr ganzer hohler Raum wendetet sich gegen ihn empor. Erschrocken bückte er sich an die Mauer zurück. Der erste Glockenschlag dröhnte in seinen Ohren. Hier wie in allen dänischen Dörfern, wurde bei Sonnenuntergang geläutet; niemand hatte eine Ahnung davon, dass irgendein menschliches Wesen dort oben sei.
Gefühlsmäßig fühlte er, dass, wenn er nur einen Schritt vorginge, die Glocke seinen Kopf zermahlen würde. Stärker und stärker tönten die Schläge aus dem hohlen Metall. Die erschütternde Luft im Verein mit des Schrecken wirkte gewaltsam auf ihn ein, der Schweiß quoll aus seinem Körper. Er wagte nicht sich umzuwenden, die Augen starrten fest in die hohle Glocke, jedesmal wenn sie dröhnen gegen ihn hin schwebte. Er stieß einen lauten Schrei um Hilfe aus, aber niemand konnte ihn hören, er fühlte, dass sein Schrei beim Schlag der Glocke lautlos sei. –

Bis in das Innerste erschüttert, hielt er sie für den ungeheuren Rachen einer Schlange; der Klöppel war der Stachel, den sie gegen ihn ausstreckte. Verwirrte Bilder drängten sich ihm auf; es war ein Gefühl, mit jenem verwandt, das er gehabt hatte, als der Pate mit ihm in das Wasser tauchte; aber es sauste doch härter in den Ohren, die wechselnden Eindrücke vereinigten sich vor seinen Augen zu grässlichen Gestalten. Die alten Bilder aus dem Schlosse schwebten vorbei mit verzogenen Mienen und stets wechselnde, langen und eckigen, durchsichtigen und lebenden Formen; sie schlugen mit Becken und auf Trommeln und gingen darauf plötzlich in Feuerglanz über. Er fühlte, dass es brannte! Er schwamm durch ein Feuermeer, und immer gähnte die Schlange mit ihrem zischenden Stachel vor ihm. Er fühlte einen sonderbaren, krampfartigen Trieb, die Klöppel mit beiden Händen zu ergreifen, als es auf einmal um ihn her still wurde. 
Aber in seinem Kopfe dauerte das schreckliche Brausen noch mit gleicher Kraft fort.
Er fühlte, dass die Kleider ihm am Körper festklebten und dass seine beiden Hände wie in der Wand festgemauert saßen. Vor ihm hing der Kopf der Schlange tot und gebeugt; die große Glock schwieg, es schloss seine Augen und fühlte, dass er einschlief. Es war eine Ohnmacht.

Seine ersten Lebensempfindungen waren wie in einem Traume, einem hässlichen Träume. Alles war dunkel und musste es sein, denn er lag im Bauch der Schlange; die Schlange hatte ich doch verschluckt, sie war also nicht tot, er fühlte alle ihre Bewegungen, er fühlte, wie sie mit ihm zappelte, seine Glieder festdrückte, ihn hoch emporhob und wieder sinken ließ. Das war ein gewaltiger Kampf. 
„Stecke ihm den Kirchenschlüssel in den Mund“, hörte er sagen, ganz in der Ferne; wieder erstarb der Laut, mit ihm aber auch sein greulicher Traum; er erwachte und fühlte sich sehr entkräftet.
Eine fremde Frau und der Pate standen neben ihm, er lag auf einem Bette.

Man hatte ihn vermisst und gefunden. Heftige Krämpfe, oder richtiger ein Nervenanfall war sein Leiden gewesen. Jetzt war er wieder bei Besinnung nur die Augen schmerzten ihn. Er erinnerte sich klar alles Vorgefallenen.

„Gott erhalte seinen Verstand!“ seufzte die Frau.
„Prügel soll er haben!“ erwiderte der Pate.
„Ja, meine Buben haben die ihrigen bekommen“, versicherte die Mutter, „obgleich sie eigentlich nichts dafür konnten. Aber sie hätten ihn fortholen sollen!“

Eine Brezel und etwas Honig darauf wurden an Peter gegeben, um sich daran zu stärken, Der Pate nahm ihn dann auf seinen Rücken und wanderte mit ihm zur Küste hinab. Denn nach Hause sollten und mussten sie am diesem Abend. Die Lichter von Svendborg blitzen über dem Meerbusen; draußen lag der Fischer mit seinem Blinkfeuer für den Walfang auf dem Wasser. Jedes Lüftchen schlief in der kühlen Sommernacht.

Ein Märchen von Hans Christian Andersen

 






















































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